Weg von Amazon & TikTok: Was Unternehmen von C&A und Lush lernen können

Gastbeitrag von Stephan Randler, freier Fachjournalist und spezialisiert auf E-Commerce, Versandhandel und Online-Marketing.

Ob Online-Marktplätze oder Social-Media-Angebote: Marken, Hersteller und Händler können heute zahlreiche Online-Portale nutzen, um darüber ihre Zielgruppe im Internet zu erreichen. Doch das Plattform-Business bietet nicht nur Chancen, sondern birgt auch Risiken. Weil ein wichtiges Ziel verfehlt wurde, verabschiedet sich beispielsweise die Mode-Kette C&A von Online-Marktplätzen. Und der Kosmetik-Spezialist Lush hat seine Social-Media-Profile bereits vor längerem stillgelegt, um ein Zeichen zu setzen. Das Ergebnis zeigt: Es geht durchaus auch ohne die großen Internet-Portale.

Keine Frage: Social-Media-Portale und Online-Marktplätze verfügen über eine enorme Reichweite und Marktmacht in Deutschland. Laut der aktuellen Medienstudie von ARD und ZDF nutzen beispielsweise bereits 60 Prozent der Deutschen ab 14 Jahren mindestens einmal wöchentlich Social-Media-Angebote im Internet. Und mit Amazon dominiert seit Jahren ein E-Commerce-Unternehmen den Online-Handel in Deutschland, das ja nicht nur ein eigenes Handelsgeschäft verfolgt, sondern eben auch einen Online-Marktplatz betreibt. Wie viele Kunden aktuell Amazon in Deutschland hat, verrät der E-Commerce-Riese zwar nicht. Schätzungen zufolge soll es hierzulande allerdings eine mittlere zweistellige Millionenzahl an Amazon-Kunden geben.

Hohe Anziehungskraft

Kein Wunder also, dass es andere Händler auf die Online-Plattform zieht, um dort als Marktplatz-Partner an diese Amazon-Kundschaft zu verkaufen. Und eine hohe Anziehungskraft haben eben auch die großen Social-Media-Portale. Laut der ARD/ZDF-Medienstudie wird allein Instagram aktuell von rund 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ab 14 Jahren mindestens einmal wöchentlich genutzt, Facebook zudem von 33 Prozent regelmäßig, TikTok immerhin noch von 19 Prozent mindestens einmal in der Woche. Bei TikTok (gehört zum chinesischen Unternehmen ByteDance) tummelt sich tendenziell eher eine jüngere Zielgruppe, ähnlich sieht es bei Instagram aus. Während diese beiden Plattformen nämlich vor allem bei 14- bis 29-Jährigen beliebt sind, wird Facebook – wie Instagram ein Online-Portal das US-Unternehmens Meta – vor allem von 30- bis 49-Jährigen genutzt. Doch die Online-Reichweite ist eben längst nicht alles.

Zur Wahrheit gehört auch: Wer einen Social-Media-Kanal bei Instagram, Facebook oder TikTok betreibt, macht das immer auf dem Portal des jeweiligen Anbieters. Und wer über Marktplätze verkauft, bewegt sich beim E-Commerce ebenfalls auf fremdem Terrain. Denn zwischen einzelnen Unternehmen und ihren Kunden beziehungsweise Followern sitzen ja immer als Vermittler die Portal-Betreiber. Diese geben zum einen ihre Regeln vor, an die sich Unternehmen bei allen Aktivitäten zu halten haben. Und zum anderen verlieren Firmen den Zugang zu den Nutzern auf den einzelnen Plattformen, wenn sie sich von einzelnen Portalen zurückziehen. Dadurch können Unternehmen aber schnell in eine große Abhängigkeit geraten.

Kundenzugang in Gefahr

Das verdeutlicht ein Praxis-Beispiel aus dem B2B-Marketing. Stellen wir uns einmal vor, Sie verschicken momentan regelmäßig einen Newsletter mit Neuigkeiten aus Ihrem Unternehmen an Stammkunden und potenzielle Neukunden. Ihren Firmen-Newsletter bewerben Sie auf Ihrer Website, wo sich Internetnutzer kostenlos registrieren können – Ihnen damit die Einwilligung geben, dass Sie regelmäßig Infos per E-Mail an diese Nutzer senden dürfen. Um weitere Abonnenten zu gewinnen, erstellen Sie jetzt zusätzlich eine eigene Unternehmensseite bei LinkedIn – was ja völlig nachvollziehbar ist. Denn diese B2B-Community kommt nach eigenen Angaben aktuell bereits auf über 25 Mio. Mitglieder im deutschsprachigen Raum.

Doch um hier die Aufmerksamkeit der Mitglieder zu erregen, brauchen Sie auch im Business-Netzwerk regelmäßig neuen Content – denn ohne Inhalte sind sie in dem Netzwerk ja wenig sichtbar. Deswegen veröffentlichen Sie ab sofort regelmäßig News zu Ihrem Unternehmen auch bei LinkedIn. Immer mehr Mitglieder von LinkedIn folgen Ihnen dadurch im Business-Netzwerk und erfahren hier News von Ihnen.

Gleichzeitig laufen Sie dadurch aber Gefahr, die Aufmerksamkeit Ihrer Zielgruppe von Ihren eigenen Kanälen zur LinkedIn-Mutter Microsoft zu verlagern. Wenn sich daher die Zahl von Ihren Followern bei LinkedIn erhöht, reduziert sich parallel vielleicht Ihr eigener Newsletter-Verteiler. Schließlich brauchen Interessenten ja keine E-Mail von Ihnen, um up to date zu bleiben – und melden sich daher von Ihrem Firmen-Newsletter kurzerhand wieder ab. So machen Sie sich selbst einen wertvollen Adresspool kaputt mit Nutzern, die Ihnen zuvor das wertvolle Opt-in für Ihre Marketing-News gegeben haben. Und falls Sie sich doch einmal von LinkedIn verabschieden sollten, geht Ihnen zudem Ihre Reichweite dort verloren.

Starke Stickiness

Nun kann man dagegen halten, dass die großen Online-Plattformen immer nur ein Mittel zum Zweck sein dürfen – die hohe Kunst bei Portal-Aktivitäten also darin bestehen muss, die Reichweite der Netzwerke zu nutzen, ohne sich selbst zu kannibalisieren. Beim B2B-Beispiel von vorhin müsste deshalb der Content bei LinkedIn so konzipiert sein, dass er Nutzer nicht einfach nur mit Firmen-News im Business-Netzwerk versorgt – sondern sie auch aus dem sozialen Netzwerk lockt und auf die Website eines Unternehmens führt, um dort dann zusätzliche Anmeldungen für den Newsletter der Firma einsammeln zu können.

Doch das dürfte nicht so einfach werden. Denn Social-Media-Portale haben eine hohe Stickiness. Laut dem “Global Digital Report 2024”  der Social-Media-Agentur “We Are Social” beispielsweise waren im Januar 2024 nämlich Internetnutzer in Deutschland im Schnitt täglich eine Stunde und 39 Minuten auf Social-Media-Plattformen aktiv. Wer hier Internetnutzer aus diesem Nutzungskontext reißen will, muss schon gute Gründe liefern – schließlich gibt es in den Feeds der Portale immer wieder neuen Content, der Nutzer an eine Plattform bindet. Denn mit Algorithmen werden ja schließlich in der Regel die Inhalte für jeden Nutzer personalisiert. Bei TikTok wird nach eigenen Angaben analysiert, welche Videos ein Nutzer anschaut, bewertet oder teilt. Auf so einer Grundlage werden Inhalte ausgespielt – um die Nutzer so mit Content zu versorgen, der sie interessiert.

Wer hier selbst Aufmerksamkeit erzielen will und eigenen Content besteuert, befeuert kurioserweise also sogar die Empfehlungsmaschine, durch die Nutzer in einem Social Network kleben bleiben. Damit binden Unternehmen quasi Nutzer noch mehr an eine Plattform – und womöglich gar nicht so sehr an sich selbst.

Erfahrungswerte aus dem E-Commerce legen das zumindest nahe. Denn die Mode-Kette C&A hatte vor zwei Jahren begonnen, ihre Fashion auch bei Amazon.de anzubieten. So wollte man Kunden ansprechen, die gerne beim Marktplatz-Riesen shoppen. “Amazon wird eine zunehmend wichtige Anlaufstelle im europäischen Textilmarkt”, hieß es zum Start. Doch schon in diesem Jahr wurde die Strategie geändert.

So hat C&A zu Jahresbeginn angekündigt, seine Zusammenarbeit mit Online-Marktplätzen wie Amazon.de zu beenden. Die Begründung lässt aufhorchen. Denn prinzipiell hat C&A von den Partnerschaften nach eigenen Angaben durchaus profitiert. Laut der Mode-Kette haben diese dazu beigetragen, dass es ein Umsatzwachstum beim Marktplatz-Geschäft gegeben hat. Doch C&A wollte nicht einfach nur bei Marktplätzen verkaufen – sondern durch diese Kooperationen auch neue Kunden gewinnen, die anschließend über die eigenen Kanäle von C&A einkaufen. Eine Auswertung habe dann allerdings gezeigt, dass die Ergebnisse in dieser Hinsicht für C&A doch “nicht zufriedenstellend” waren.

Und das ist ja irgendwie auch nachvollziehbar. Wer etwa Kunde von Amazon.de ist und Mode kaufen will, findet auf dem Marktplatz schließlich zahlreiche Angebote von verschiedenen Händlern.

Eigene Kanäle verstärkt im Fokus

In dem hauseigenen Online-Shop von C&A dagegen gibt es nur das, was C&A zu bieten hat. Dazu müssen Kunden entweder einen Gastzugang anlegen oder sich registrieren, wenn sie erstmals direkt bei C&A online kaufen. Bei Amazon.de dagegen haben die Bestandskunden ja bereits einen Account. Logisch also, dass für sie dann Online-Shopping auf dem E-Commerce-Marktplatz bequemer ist. Wer Nutzer daher auf die eigenen Kanäle locken will, muss seinen Kunden hier mehr bieten. Das kann exklusiver Content sein oder ein Produkt, das es so halt nicht auf Online-Marktplätzen gibt. Und so eine Herangehensweise könnte nicht nur bei Online-Marktplätzen funktionieren, sondern sich auch bei Social-Media-Portalen auszahlen.

Hier haben Online-Händler zumindest aktuell den Vorteil, dass Nutzer bereitwilliger ihr Umfeld verlassen dürften – zumindest wenn es um Online-Shopping geht. Laut dem “Global Digital Report 2024” möchten Nutzer über Social Media zwar in erster Linie mit Freunden und Bekannten in Kontakt bleiben. Ein Fünftel der Nutzer sucht laut dem Report in Social Networks allerdings auch schon Produkte. Von diesem Trend profitieren können Unternehmen, wenn sie ihre Produkte über Influencer oder Anzeigen bewerben. Und weil Social Networks ja keine Marktplätze sind, müssen Nutzer einen externen Shop besuchen, wenn sie ein Produkt in ihrem Feed entdecken und anschließend online kaufen wollen – zumindest aktuell noch.

Denn die Grenzen zwischen Social Networks und Marktplätzen verschwimmen zunehmend. Bei TikTok etwa können Händler in ersten Ländern ihre Produkte so im Social Network platzieren, dass Nutzer die Ware direkt dort kaufen können – also nicht mehr den Online-Shop des Anbieters besuchen müssen, um hier den Kauf abzuschließen. So wird Shopping für Nutzer noch bequemer, da sie den Kauf direkt im gewohnten Umfeld abschließen können. Der Nachteil für die Händler ist aber, dass die Portal-Betreiber damit letztlich ja noch mächtiger werden, wenn sie Nutzer künftig noch stärker an ihre Plattform binden.

Kein Umsatzschwund trotz Social-Media-Aus

Händler, Hersteller und Marken müssen sich vor diesem Hintergrund mehr denn je mit der strategischen Frage beschäftigen, wie viel von ihrem Business sie eigentlich auf fremdem Boden bauen wollen. C&A jedenfalls will sich nach seiner Amazon-Erfahrung in Zukunft darauf konzentrieren, seine eigenen digitalen Kanäle zu stärken und weiter auszubauen. Und das Beispiel Lush zeigt auf, dass es auch anders geht.

Der Anbieter von Seifen, Duschgel und Badebomben hat vor drei Jahren beim Social-Media-Marketing die Reißleine gezogen und die Aktivitäten bei den Platzhirschen Instagram, Facebook, TikTok und Snapchat kurzerhand eingestellt – in allen Ländern, in denen der Multichannel-Händler aus Großbritannien aktiv ist. Im deutschen TikTok-Profil wurde zum Beispiel zuletzt vor drei Jahren ein Beitrag gepostet (siehe Screenshot). Und in diesem Post rät Lush seinen Followern zudem, ihre Zeit lieber nicht im Social Network zu verbringen (“Sei woanders”). Entschieden zu diesem Schritt haben sich die Briten, weil sie unter anderem die Algorithmen von vielen Plattformen inzwischen kritisch sehen – wie auch die Social-Media-Nutzung generell. Nachvollziehbar. Schließlich bleiben Nutzer in Deutschland ja allein an einem Tag knapp 100 Minuten in Social Networks kleben, wie der “Global Digital Report 2024” aufzeigt.

Tobias Kruse, Growth and Communications Strategy Lead bei Lush Europe

Geschadet hat das Social-Media-Aus den Briten nicht. “Der Verzicht auf Social Media hatte kurzfristig Auswirkungen auf unseren direkten Traffic”, erzählt zwar Tobias Kruse, Growth and Communications Strategy Lead bei Lush Europe. “Langfristig hat sich jedoch gezeigt, dass authentische, echte Erlebnisse in unseren Shops eine noch tiefere Bindung zu unserer Kundschaft aufbauen.” Seit dem Rückzug aus den sozialen Medien veranstaltet Lush in seinen stationären Stores beispielsweise Events, zu denen bekannte Autoren eingeladen werden. Solche Maßnahmen hätten sich positiv auf die Umsätze ausgewirkt – und helfen Lush dabei, die Reichweite zu vergrößern, ohne auf Social-Media-Portale angewiesen zu sein.

Womöglich probieren es daher auch andere Unternehmen in Zukunft einmal ohne Amazon und TikTok. Auch wenn es an Social-Media-Portalen und Online-Marktplätzen ja fast kein Vorbei gibt. Eigentlich zumindest.

Über den Autor: Stephan Randler (45) ist freier Fachjournalist und spezialisiert auf E-Commerce, Versandhandel und Online-Marketing. Er ist zudem Gründer des Online-Magazins neuhandeln.de – Der Online-Service für die Zukunft des Handels , das seit Frühjahr 2014 tagesaktuelle Infos, Analysen und Insights zu dem deutschen Online- und Multichannel-Handel liefert. Zuvor hatte er bereits als Chefredakteur für den Versandhausberater gearbeitet. Als Fachjournalist begleitet er die E-Commerce-Branche in Deutschland schon seit 2004.

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