Gastbeitrag von Stephan Randler, freier Fachjournalist und spezialisiert auf E-Commerce, Versandhandel und Online-Marketing.
KI-Tools wie ChatGPT helfen Verbrauchern dabei, Käufe im Internet vorzubereiten. Wenn Nutzer sich aber in KI-Systemen über Produkte informieren, recherchieren sie weniger in Online-Shops. Dadurch verlagert sich ein wichtiger Touchpoint in der Customer Journey in KI-Umgebungen. Wenn Internetnutzer künftig auch ihre Einkäufe bei ChatGPT tätigen, wird die Kundenbindung noch einmal schwerer. Vom KI-Trend im E-Commerce lässt sich aber durchaus profitieren – ohne dass Händler ihr Online-Business neu erfinden müssen.
Wenn die Tage kürzer werden, beginnt für mich die schönste Zeit des Jahres. Denn ich liebe es, im Herbst durch die Natur zu wandern. Dafür brauche ich aber erst einmal neue Wanderschuhe. Die kaufe ich am liebsten online – und suche daher auch jetzt wieder im Netz. In Online-Shops stöbere ich aber trotzdem weniger als zuvor, um mich über Produkte zu informieren. Schließlich habe ich seit kurzem einen ganz persönlichen Shopping-Assistenten – und der heißt ChatGPT.
Der Chatbot hilft mir jedenfalls, passende Schuhe auszusuchen. Schließlich hat US-Anbieter OpenAI die Online-Suche bei seiner hauseigenen KI in diesem April so überarbeitet, dass sich Verbraucher jetzt Produkte empfehlen lassen können. Wenn ich also Wanderschuhe brauche, lasse ich ChatGPT recherchieren und mir passende Modelle vorschlagen (siehe Screenshot).
Nutzer können sich von ChatGPT beim Kauf beraten lassen (Bild: Screenshot)
Und ich bin kein Einzelfall. Auch andere Verbraucher beauftragen bereits Chatbots, um Käufe im Internet vorzubereiten. Das belegt stellvertretend der aktuelle Report “Emerging Trends in Consumer AI Adoption”, den die Beteiligungsgesellschaft Verdane veröffentlicht hat. Für diesen Report wurden im Juni 2025 – also nach dem Marktstart des Shopping-Features von ChatGPT – mehrere tausend Anwender von Conversational KI-Tools wie ChatGPT, Copilot von Microsoft, Perplexity oder Gemini von Google in sechs europäischen Ländern befragt – darunter auch Verbraucher aus Deutschland. Das Ergebnis: 76 Prozent der KI-Anwender haben ChatGPT & Co. schon für eine Produktsuche genutzt – 17 Prozent der KI-Fans machen das sogar häufig.
Für Early Adopter ist es also bereits selbstverständlich, Käufe über KI-Tools vorzubereiten. Viel spricht daher dafür, dass langfristig auch die breite Masse der Internetnutzer beim Shoppen auf ChatGPT & Co. vertrauen wird. Verdane prognostiziert sogar, dass es schneller dazu kommen könnte als man denkt. Nachvollziehbar. Schließlich zeigt der KI-Report von Verdane nicht auch zuletzt, dass Nutzer mit den Produktempfehlungen der KI-Systeme bereits sehr zufrieden sind.
Revolution im E-Commerce
Kein Zufall. Schließlich verwenden Internetnutzer einen Chatbot längst nicht nur zum Shoppen, sondern in erster Linie als ihren digitalen Assistenten. Und je mehr ein Nutzer im Alltag seinen Bot verwendet, umso besser kann die KI dann prinzipiell auch ihren Anwender kennenlernen.
In meinem Fall weiß ChatGPT daher längst nicht nur, dass ich gerne wandere. Der Bot kennt auch aus früheren Chats, wo ich bereits war und was für Wege ich gerne gehe. So kann mir ChatGPT genau die Schuhe empfehlen, die ich brauche – und mir dabei viel Arbeit ersparen.
Denn Produktrecherchen in Online-Shops können schnell sehr mühsam werden. Oft muss ich mich durch Produktfilter klicken und in Trefferlisten wühlen, wenn ich Schuhe für mich suche. Und ein einzelner Anbieter weiß vielleicht, was ich bereits einmal bei ihm gekauft habe. Doch ChatGPT kennt mich persönlich – und so den Kontext, der für meine Suche wichtig ist. Selbst wenn ein Suchergebnis mich im ersten Schritt einmal nicht überzeugen sollte, kann ich meine Recherche bequem verfeinern – im persönlichen Dialog mit meinem Shopping-Assistenten.

Tim Böker (Quelle: Gartenhaus GmbH, Fotograf: Simon Thon)
“Im Vergleich zu ChatGPT ist ein klassischer Online-Shop nicht besonders kundenfreundlich”, bemerkt daher auch Tim Böker, Geschäftsführer von Gartenhaus.com, Spezialversender für Gartenhäuser, Gartensaunen, Geräteschuppen und Gewächshäuser. Weil ChatGPT so viel Komfort bietet, rechnet er sogar mit drastischen Folgen: “Wir stehen vor einer Revolution im E-Commerce“, prognostiziert Böker. “Die eigene Storefront wird immer unwichtiger werden.”
Touchpoints gehen verloren
Seine Prognose lässt sich nachvollziehen. Denn bislang ist es ja üblich, dass Verbraucher sich in Online-Shops, auf Marktplätzen oder bei Suchmaschinen informieren, wenn sie Einkäufe im Internet vorbereiten. Doch dieser Teil der Customer Journey eines Verbrauchers verschwindet in KI-Systemen, wenn sich Nutzer bei ChatGPT & Co. über Waren informieren (siehe Grafik).

Die KI verändert die Customer Journey
“Der klassische Online-Shop verliert an Sichtbarkeit, wenn KI-Systeme direkt Antworten und Produktempfehlungen ausliefern”, beobachtet auch Markus Kellermann, Geschäftsführer und Gründer der Digital-Marketing-Agentur MAI xpose360. Langfristig aber dürften Verbraucher nicht nur verstärkt Käufe über KI-Tools vorbereiten – sondern auch direkt dort einkaufen.
Hierzulande listet ChatGPT aktuell zwar nur Produkte aus Online-Shops – wer einkaufen will, muss daher die Website des Händlers besuchen. In den USA aber hat OpenAI bereits einen “Instant Checkout” vorgestellt. Artikel lassen sich damit direkt bei ChatGPT bestellen – ohne dass Nutzer die KI-Umgebung verlassen müssen. Stattdessen kann man einen Buy-Button auswählen, der neben einem Artikel erscheint (siehe Screenshot). Anschließend lassen sich Kontaktdaten und Bezahlverfahren angeben, um den Kauf abzuschließen. Die Bestellung wird dann vom Händler abgewickelt, der eine Gebühr bezahlt – wenn der Kunde nicht retourniert.
ChatGPT-Empfehlung mit Kaufbutton (Bild: Screenshot)
Den KI-Checkout will OpenAI bereits im nächsten Jahr auch Nutzern von ChatGPT in anderen Ländern anbieten. Wenn sich das Modell etabliert, dürfte für Händler ein weiterer Touchpoint in der Customer Journey verloren gehen. “Die Kundenbindung wird schwieriger, wenn der Kauf in einem KI-Interface abgeschlossen wird”, warnt stellvertretend Marketing-Experte Kellermann.
Nachvollziehbar. Denn im hauseigenen Online-Shop kann man zum Beispiel einen Newsletter bewerben, wenn Kunden dort bestellen. Über Cross-Selling kann man Käufern beim Checkout zudem weitere Produkte empfehlen. Das geht aber so nicht mehr, wenn Kunden bei ChatGPT kaufen. Doch der KI-Trend bietet auch spannende Zukunftsperspektiven, wenn sich Verkäufer darauf einlassen. Zumal sich – nüchtern betrachtet – das Business nicht allzu sehr verändert.
Denn ChatGPT ist letztlich ein weiterer Online-Riese, bei dem sich potenzielle Kunden tummeln – und Online-Händler daher präsent sein müssen. Das kennen Unternehmen von Gatekeepern wie Suchmaschinen, Marktplätzen und Social-Media-Portalen. Hier lässt sich aber Sichtbarkeit durch Anzeigen erkaufen. Bei ChatGPT dagegen gibt es keine bezahlten Listings. Bot-Betreiber OpenAI setzt nach eigenen Angaben auf unbezahlte Suchtreffer, die für die Nutzer relevant sein sollen. Um in der KI-Umgebung sichtbar zu werden, brauchen Händler also gute Produktdaten. Diese können Verkäufer zwar direkt an ChatGPT übermitteln. Das dürfen aber momentan nur solche Händler, die sich für das Verkäuferprogramm von OpenAI bewerben und zugelassen werden. Daten können Online-Händler aber auch unabhängig davon für ChatGPT optimieren.
After-Sales immer wichtiger
Das zeigt der Spezial-Versender Gartenhaus. Im Online-Shop gibt es aktuell nur bei einzelnen Kategorien weiterführende Informationen – nicht aber für jedes Produkt. So kann man aktuell nur lesen, welche Vorteile generell eine Gartensauna bietet. Hinter den Kulissen konzipiert der Spezial-Versender aber bereits FAQs für jedes einzelne Produkt, das Gartenhaus im Angebot hat – auch wenn sich beispielsweise einzelne Gartensaunen nur in der Größe unterscheiden.
Die neuen Texte werden für Large Language Models (LLM) wie ChatGPT optimiert und sollen dabei helfen, kontextbezogene Antworten auf KI-Suchen zu liefern. “Wer eine Gartensauna kaufen möchte, lädt bei ChatGPT in der Regel ein Bild von seinem Garten hoch”, berichtet Gartenhaus-Chef Böker. “Anschließend beauftragt der Nutzer den Bot, eine passende Sauna für seinen Garten zu finden.” Im Dialog kann ChatGPT dann klären, welche Größe denn der Garten hat. Bei einer Produktsuche soll der Bot dann über die neuen FAQs eine Sauna aus dem Sortiment von Gartenhaus entdecken, die auf das Grundstück des Nutzers passt. Auch nach Einschätzung von Marketing-Experte Kellermann ist das eine gute Herangehensweise: “Systeme wie ChatGPT bevorzugen strukturierte, faktenbasierte Inhalte mit klarem Nutzwert.”

Markus Kellermann (Bild: MAI expose360)
Doch für welchen Anbieter entscheiden sich Kunden, wenn die KI mehrere Händler empfiehlt? Verbraucher dürften jedenfalls auch in KI-Systemen schnell bei dem Shop kaufen, der günstig ist oder schnell liefert. Das kennen Händler vielleicht von Online-Marktplätzen, wo es ebenfalls viel Wettbewerb gibt – aber nur wenig Möglichkeiten, um sich als Marke in Szene zu setzen.
Online-Händlern droht damit ein Dilemma: Wer Daten jetzt für KI-Systeme optimiert, verkauft vielleicht nur über den Preis. Doch wer sich deshalb dem KI-Trend verweigert, bleibt komplett außen vor. Aussitzen sollten Händler und Marken den KI-Trend allerdings keinesfalls. Das rät zumindest Uli Zimmermann, Gründer und Geschäftsführer von der Online-Marketing-Agentur eMinded. “Entscheidend ist, einen Abschluss zu bekommen und den Umsatz zu verbuchen.”
Vom Wettbewerb differenzieren können sich Händler ihm zufolge schließlich auch nach dem Kauf. “Händler müssen ihre Ware ja nicht einfach in ein braunes Paket stecken”, verdeutlicht Zimmermann. “Mode-Händler können Fashion in einem Karton mit dem Branding ihrer Marke verschicken und Bekleidung im Paket in Seidenpapier einwickeln.” So ließe sich ein Erlebnis beim “Unboxing” schaffen – wenn Kunden ihre Bestellung erhalten und die Ware auspacken.

Uli Zimmermann (Bild: eMinded GmbH)
Auch einen Newsletter kann man ihm zufolge gut bewerben, wenn Kunden ihr Paket erhalten – zum Beispiel über einen Flyer im Karton oder einen QR-Code auf der Versandbox, der Nutzer zum Newsletter-Abo führt. Entscheidend ist für Zimmermann aber, dass Händler nicht nur ein Erlebnis bei der Lieferung bieten – sondern auch auf ihrer Website. Gartenhaus-Chef Böker stimmt ihm zu: “Online-Shops müssen eine starke Marke aufbauen, um Kunden zu binden.”
Nach Einschätzung von Agentur-Gründer Kellermann können Communitys, Content-Angebote oder exklusive Services helfen, nach dem Kauf einen Kontakt zum Kunden aufzubauen. Wer das nicht schafft, dürfte erneut einen Touchpoint in der Customer Journey an die KI verlieren. Für Gartenhaus-Chef Böker jedenfalls ist das After-Sales-Geschäft kein Selbstläufer: “Wer bei ChatGPT eine Sauna gesucht hat, fragt sonst vielleicht auch den Bot, wenn er Zubehör sucht.”
Daten statt Werbung
Dann konkurrieren Händler wieder mit anderen Anbietern. Und groß trommeln kann man nicht. Schließlich gibt es bei ChatGPT ja weder Anzeigen noch bezahlte Produktplatzierungen. Wobei das gerade für kleinere Händler eigentlich ganz gut ist. “In KI-Systemen wie ChatGPT gewinnt nicht mehr automatisch derjenige an Sichtbarkeit, der die tiefsten Taschen hat”, freut sich Böker.
So gesehen ist es fast schon schade, dass KI bei der Kaufvorbereitung nicht überall gleich stark an Bedeutung gewinnt. Der KI-Report von Verdane zeigt jedenfalls: Bei Elektronik lassen sich Early Adopter in Europa momentan zwar schon gerne von Chatbots beraten. Bei Lebensmitteln, Beauty oder Mode dagegen sind Verbraucher zurückhaltender. Und das dürfte kein Zufall sein.
Denn ChatGPT liefert zwar Produktvorschläge. Die KI-Umgebung ist – zumindest aktuell – aber doch sehr funktional gestaltet und wenig emotional aufgeladen. Zu Elektronik passt das, weil man hier vor dem Kauf zum einen ja gerne Features vergleicht. Zum anderen muss bisweilen schnell Ersatz her, wenn zum Beispiel eine Waschmaschine kaputtgeht. Gut daher, wenn der Bot die Klickarbeit übernimmt und man sich nicht selbst durchs Internet wühlen muss.
Doch an anderer Stelle möchten Menschen eventuell gar nicht alles auf einen Chatbot abwälzen. “Wenn Verbraucher für ein Thema brennen, stöbern sie auch künftig gerne selbst in Online-Shops”, glaubt etwa Sven-Ole Binder, Geschäftsführer bei der Berliner Marketing-Beratung CoPiloten.

Sven-Ole Binder (Bild: CoPiloten – FMcom GmbH)
Wenn der Einkauf lästig wird, kann der Bot ihm zufolge besonders punkten. Und tatsächlich ist es bei mir so. Denn ich liebe es, zu wandern. Doch es nervt mich, Schuhe einzukaufen. Ich bin daher froh, wenn ChatGPT mir hilft. Für Online-Händler ist das trotzdem eine große Chance.
Wenn ich nämlich jetzt einen interessanten Online-Shop entdecke, kaufe ich meine nächsten Schuhe vielleicht von vornherein dort. ChatGPT nutze ich als meinen Shopping-Assistenten dann womöglich gar nicht mehr. Selbst wenn ich wieder einmal neue Wanderschuhe brauche.

